Vergessen Sie den Hype!

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"Lernen ist das Produkt von Erfahrung. Lernen kann nur durch den Versuch, ein Problem zu lösen, stattfinden und findet daher nur während der Aktivität statt." (Kenneth J. Arrow)

Dieses Zitat von Charles Jennings fiel in der Abschlussdiskussion zum Workplace Learning Track auf der OEB 2018. Als die anwesende Learning & Development-Community zustimmend nickte, machte es mich nachdenklich.

Sehr oft hatte ich während der OEB-Tage den Eindruck, dass die Learning & Development-Community verzweifelt nach validierten Best Practices sucht und sich an alles klammert, was verspricht, durch harte und nachgewiesene Forschung gestützt zu sein, um es dann im eigenen Unternehmen anzuwenden. Daran ist prinzipiell nichts auszusetzen, im Gegenteil. Aber nur so lange, wie man sich der Grenzen der Anwendbarkeit von Forschungsergebnissen auf reale Probleme bewusst ist:

Empirische Forschung, insbesondere zum Thema "Lernen" mit all ihren Bezügen zur pädagogischen, kognitiven oder psychologischen Forschung ist phänomenal komplex. Konkrete Best Practices oder Handlungsanweisungen lassen sich kaum ableiten, weil wissenschaftlich fundierte empirische Studien nur Hypothesen widerlegen können, nicht aber umgekehrt (im Sinne des kritischen Rationalismus von Karl Popper). Oder um es einfach auszudrücken: Die Forschung kann Ihnen sagen, was bei Ihren Lerninterventionen nicht funktioniert, aber sie kann Ihnen nicht sagen, was wirklich funktionieren wird.

Außerdem sind die meisten klinischen Studien zu klein und/oder haben zu viele Störvariablen, die sich mit den Daten vermischen, um das Ergebnis einer bestimmten Lernintervention für das wirkliche Leben zuverlässig vorhersagen zu können. Metastudien mögen ein recht gutes Verständnis für übergreifende Prinzipien liefern, aber ein konkretes Lerndesign wird wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen, wenn nur ausgewählte Aspekte herausgepickt werden oder besagte Störgrößen nicht berücksichtigt werden. Daher gibt es gerade im Bereich des Lernens eine Vielzahl von Mythen, die regelmäßig entlarvt werden. Siehe das jüngste Opfer, die Existenz von Lernstilen, die nach jahrzehntelanger Forschung scheinbar widerlegt wurde.

Was sollten L&D-Teams also tun? Ihre eigene wissenschaftlich fundierte Forschung zu Methoden und Interventionen in ihren spezifischen Unternehmen mit all ihren einzigartigen Eigenheiten, Kulturen und Menschen entwerfen und durchführen? Kein L&D-Team der Welt hat die Zeit oder die Ressourcen dafür, richtig?

Nun, irgendwie schon. Aber schauen wir uns das Zitat am Anfang des Beitrags an:

"Lernen ist das Produkt von Erfahrung. Lernen kann nur durch den Versuch, ein Problem zu lösen, stattfinden und findet daher nur während der Aktivität statt."

Was wäre, wenn sich L&D dieses Verständnis von "Lernen" selbst zu eigen machen würde?

Wohlgemerkt, ich meine nicht, dass L&D ihren Unternehmen nur raten sollten, diesen Ansatz zu übernehmen und den Mitarbeitern mehr Gelegenheit zum Lernen zu geben, wenn sie mit neuen Aufgaben, Jobs usw. konfrontiert werden. Nein, ich denke an L&D selber, diese Denkweise anzuwenden, wenn sie ihrerseits dem Unternehmen und den Mitarbeitern Lösungen zur Unterstützung zu Workplace Learning anbieten: Finden Sie selber heraus, welche Angebote wirklich hängen bleiben und machen Sie diesen Erkentnisgewinn für Sie selbst zum Teil der gesamten Intervention. 

Das notwendige "Toolset" für diesen Ansatz ist in anderen Branchen und Domänen, die mit hoher Komplexität, Unvorhersehbarkeit und viel Veränderung konfrontiert sind bereits weit verbreitet und heißt: Agilität. Agilität ist ein Ansatz, der Ungewissheit und nutzerzentriertes Design zu Leitprinzipien erklärt und ständige Iteration und Lernen zu einem integralen Bestandteil des gesamten Prozesses macht.

Was bedeutet das genau, wenn es auf das Lernen am Arbeitsplatz angewendet wird? L&D sollte einen wirklich agilen Ansatz verfolgen, der durch Experimentieren, Iteration und Validierung angetrieben wird. L&D muss in ihrem jeweiligen Unternehmen Experimente durchführen, die Auswirkungen beobachten, Schlussfolgerungen ziehen, aus den Ergebnissen lernen und über die gewonnenen Erkenntnisse iterieren, um noch sinnvollere Lösungen zu bieten. Dabei verwandelt L&D die eigentliche Bereitstellung eines Workplace Learning Frameworks in einen Lernprozess für sich selbst.

Das Ergebnis ist ein früheres Verständnis dafür, welche Interventionen am besten funktionieren, eine höhere Flexibilität und eine bessere Anpassung an die aktuellen und zukünftigen Bedürfnisse des Unternehmens, einer bestimmten Abteilung oder eines bestimmten Teams.

Natürlich muss L&D dafür das Vertrauen des Unternehmens gewinnen. Und es ist sicherlich ein gewisses Risiko damit verbunden, da nicht jedes "Experiment" perfekte Ergebnisse liefern wird. Aber mit einem agilen Ansatz kann L&D "schnell scheitern" und ist so in der Lage, flexibler und kostengünstiger zu reagieren. Es ist sinnvoller, erst einmal klein anzufangen, mit einem kleinen Leuchtturmprojekt und einer Zielgruppe, die bereit ist, sich auf solche Experimente einzulassen bevor man gleich an einen „Big Bang“ denkt. Denn was kann schlimmer sein, als an den alten Wegen festzuhalten, die auch nicht wirklich erfolgreich waren?

Heutzutage wird alles um uns herum immer komplexer, auch unsere Arbeitsplätze und Jobs. Ich bin der festen Überzeugung, dass Komplexität neue Denkweisen erfordert. Und alles, was mit "Lernen" zu tun hat, ist komplex. Es scheint perfekt zu passen, einen agilen Ansatz beim Lernen am Arbeitsplatz für Mitarbeiter zu wählen, die heute selbst mehr denn je mit ständigen Veränderungen in ihren eigenen Arbeitsabläufen konfrontiert ist. Wenn L&D diese Denkweise annimmt, kann sie an der Spitze des Wandels stehen und ein vertrauensvoller Begleiter in diesem Prozess sein, um ihre Unternehmen zu echten lernenden Organisationen zu transformieren.

Also, glauben Sie nicht dem Hype. Erzeugen Sie Ihren eigenen.

Ich freue mich jedenfalls schon sehr auf die nächste Konferenz, die das Lernen am Arbeitsplatz in den Mittelpunkt stellt. Ich hoffe, dass weniger die "harte" Forschung im Vordergrund stehen wird, sondern mehr Erfahrungen und Best Practices, wie man Experimente in Unternehmen durchführen kann. 

Pascal GuderianComment