Die blinden Männer und der Elefant

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Was modernes Wissensmanagement und Learning & Development von einem alten indischen Gleichnis lernen können

Kennen Sie die Parabel von den blinden Männern und dem Elefanten? Es stammt aus dem alten indischen Subkontinent und ist die Geschichte einer Gruppe von blinden Männern, die noch nie einem Elefanten begegnet sind und versuchen, etwas über ihn zu erfahren, indem sie lediglich einen Teil von ihm berühren. Jeder Mann versucht, sich ein Bild von dem Elefanten zu machen, indem er individuell entweder nur den Stoßzahn, die Seite, den Rüssel usw. berührt und ihr Austausch endet jedoch in Uneinigkeit. Die Moral: Menschen haben die Tendenz, nur ihren subjektiven Erfahrungen zu glauben und die anderer zu ignorieren, die ebenso wahr sind.

Dabei fühle ich mich unwillkürlich daran erinnert, dass etwas Ähnliches auch in Unternehmen passiert. Statt um einen Elefant geht es aber um „Wissen“:

Wissen und Skills der Belegschaft sind in jedem Unternehmen ein großer Treiber für den Unternehmenserfolg. Es ist nicht nur eine große Herausforderung, institutionelles Wissen innerhalb der Organisation zu transferieren und zu teilen, sondern auch sicherzustellen, dass die Belegschaft über die richtigen Fähigkeiten für die zukünftigen Anforderungen des Unternehmens verfügt. Vor allem in der heutigen Zeit, in der Veränderungen unglaublich schnell voranschreiten.

In der Realität heutiger Unternehmen gibt es Abteilungen, die als Hauptaufgabe haben, passende Lösungen für diese Herausforderungen zu liefern. Dies sind die blinden Männer aus obiger Parabel: Traditionell gibt es Knowledge Management Abteilungen (KM) auf der einen Seite und Human Resources Abteilungen oder besser Learning & Development (L&D) auf der anderen Seite.

Seit geraumer Zeit habe ich darüber nachgedacht und mich gefragt, was die Unterschiede zwischen diesen Abteilungen sind. Es kam mir seltsam vor, dass es verschiedene Teile in einer Organisation gibt, die mehr oder weniger versuchen, effektiv das gleiche Versprechen einzulösen: Wissen und Skills in Business-Performance zu verwandeln.

Ich habe ein wenig gegraben und versucht, Antworten zu finden, um die Unterschiede besser zu verstehen. Mit diesem Blogbeitrag möchte ich meine Erkenntnisse teilen.

Wissensmanagement

Wikipedia bietet eine kurze Definition von Wissensmanagement – Englisch Knowledge Management (KM):

Wissensmanagement ist die methodische Einflussnahme auf die Wissensbasis eines Unternehmens (organisatorisches Wissensmanagement) bzw. eines Individuums (Persönliches Wissensmanagement). Unter der Wissensbasis werden alle Daten und Informationen, alles Wissen und alle Fähigkeiten verstanden, die diese Organisation bzw. Person zur Lösung ihrer vielfältigen Aufgaben hat oder haben sollte.

Es gibt eine scheinbar endlose Anzahl von KM-Modellen, -Rahmenkonzepten und -Theorien. Doch was genau ist, abgesehen von akademischen Überlegungen und Semantik, mit der bestmöglichen Nutzung von Wissen gemeint, die Unternehmen mit KM zu erreichen versuchen? Auch hier wieder einige Auszüge aus Wikipedia:

  • Erleichterung und Management von Innovation und organisatorischem Lernen

  • Nutzung von Fachwissen in der gesamten Organisation

  • Management von intellektuellem Kapital und Vermögenswerten in der Belegschaft (wie z.B. das Fachwissen und Know-how, das von Schlüsselpersonen besessen wird oder in zentralen Ablagen gespeichert ist)

  • Management von Geschäftsumgebungen und das Ermöglichen, dass Mitarbeiter relevante Erkenntnisse und Ideen erhalten, die für ihre Arbeit geeignet sind

  • ...

Klingt gut. Aber genau wie das Wochenhoroskop sind diese Aspekte so breit gefächert, dass sie auf jede beliebige Weise interpretiert werden können. Aber nach weiteren Recherchen und Gesprächen mit KM-Experten kam ich langsam zu dem Schluss, dass der Schwerpunkt des klassischen Wissensmanagements auf der Sammlung und Objektivierung von institutionellem, d.h. internem Wissen in Unternehmen liegt. Und dass viel Aufwand und Geld in Modelle und Werkzeuge gesteckt werden, die eine dauerhafte Aufbewahrung von möglichem Wissen und Informationen in der Organisation ermöglichen bzw. versprechen es zu tun.

Aber ich habe den Eindruck, dass KM sich schwer damit tut, dieses Wissen effektiv nutzbar zu machen und es für die Menschen am Arbeitsplatz sinnvoll nutzbar zu machen. Das ist möglicherweise der Grund, warum klassisches KM oft dafür bekannt ist, aufgeblähte Wissensdatenbanken zu etablieren, was durch ISO-Normen, die von globalen KM-Komitees definiert werden und bestimmte Anforderungen an "effektive Managementsysteme" stellen, weiter zementiert wird. (Kann mir bitte jemand erklären, warum jemand etwas so immaterielles wie Wissen und die Prozesse darum herum standardisieren möchte? Geschweige denn, sowas überhaupt abseits reiner akademischer Freude am Tun zu versuchen? Insbesondere in Zeiten, in denen die Halbwertszeit von Wissen immer kürzer wird? Bitte?)

Das Ergebnis: KM scheint meist Systeme zu liefern, die eigentlich nur zum Selbstzweck dienen. Und vor diesem Hintergrund wird natürlich die Sinnhaftigkeit der Existenz von KM-Abteilungen in Frage gestellt, denn wer braucht schon Dauerdeponien für unnützes Wissen?

Bei L&D sieht es doch sicherlich besser aus, oder?

Learning & Development

Glücklicherweise bin ich mit L&D und Corporate Learning im Allgemeinen bereits vertraut. Kurz gesagt, geht es bei L&D im Kern um die Entwicklung der "Human Resources" und die Qualifizierung der Belegschaft. Idealerweise sollten die "Lerninhalte" zu den aktuellen, aber auch zu den zukünftigen Anforderungen des Unternehmens und der Mitarbeiter passen.

Vergleichbar mit dem Wissensmanagement gibt es beim Lernen am Arbeitsplatz viele verschiedene Teilbereiche und Methoden: Formales & Informelles Lernen, Workplace Learning, Performance Support, 5 Moments of Need, 70:20:10, Blended Learning, Microlearning, Classroom-Trainings, etc. um nur einige zu nennen. Normalerweise ist L&D traditionell dafür zuständig, dem Unternehmen Lösungen zu liefern, die zu den Unternehmenszielen passen.

Klassische L&D-Ansätze stützen sich stark auf fundierte pädagogische und psychologische Grundlagen, um gut durchdachte, ausgefeilte und ansprechende Lernsettings bereitzustellen. Leider sind die Lerninhalte aber manchmal schon veraltet, wenn sie zur Verfügung gestellt werden, weil die Entwicklung einfach zu viel Zeit in Anspruch nimmt. Oder den Maßnahmen fehlt es an Relevanz für die Mitarbeiter (und auch für das Unternehmen) und das Lernen wird auf ein weiteres obligatorisches Compliance- und Datensicherheits-E-Learning reduziert. Und um die Kosten zu rechtfertigen, wird der Erfolg von Lernkampagnen anhand von Abschlussscores bewertet, die in Learning Management Systemen (LMS) gespeichert werden.

Das Ergebnis: Wie KM fehlt es auch L&D an Relevanz für das Unternehmen und die Mitarbeiter, und es mehrt sich hier auch die Kritik an der Sinnhaftigkeit von L&D-Abteilungen für den konkreten Unternehmenserfolg und sie werden zunehmend als vernachlässigbar wahrgenommen. 

Der Elefant im Raum

Um es noch einmal zusammenzufassen: Sowohl Wissensmanagement als auch L&D haben so ziemlich das gleiche Ziel: Wissen und Fähigkeiten (institutionell oder extern) in Unternehmensleistung zu verwandeln.

Aber es gibt zwei sehr unterschiedliche Wertvorstellungen: KM geht das Thema von der einen Seite an, indem es sich auf das Extrahieren, Speichern und Klassifizieren von institutionellem Wissen konzentriert. L&D geht das Thema von der anderen Seite an, indem es sich auf die Vermittlung von Wissen konzentriert und dabei pädagogische und psychologische Erkenntnisse beachtet.

Beide Disziplinen kämpfen jedoch damit, für das Unternehmen relevant zu bleiben: Entweder wird das Wissen einfach in bodenlose Gruben gekippt, aus denen die Informationen nicht sinnvoll abgerufen werden können. Oder die Mitarbeiter müssen stundenlang endlose E-Learning-Inhalte und Trainings ertragen, die zwar objektiv qualitativ hochwertig sein mögen, aber für die Bedürfnisse der Mitarbeiter, die einfach nur ihre Arbeit erledigen wollen, faktisch bedeutungslos sind.

Doch in Zeiten der "digitalen Transformation" mit ihrem hohen Tempo wird brutal deutlich, dass traditionelles KM und L&D einfach nicht mehr ausreichen. So wie Wissen nicht "verwaltet" werden kann, so kann auch "Lernen" nicht verwaltet werden. Die Masse des "geschaffenen" Wissens übersteigt bei weitem jede Möglichkeit, es zu verwalten. Und die schiere Menge an Know-how, die Mitarbeiter an ihren Arbeitsplätzen benötigen, macht jedes klassische "Lernen" unmöglich. Beide Ansätze haben die tatsächlichen Bedürfnisse von Unternehmen und Mitarbeitern aus den Augen verloren.

Es mag etwas hart klingen, aber es scheint, als ob die "blinden Männer" KM und L&D ständig versuchen, den Elefanten "Wissen" mit ihren ganz eigenen Perspektiven und Schwerpunkten in den Griff zu bekommen.

Was sollten wir also tun? Wissen ist so entscheidend für den Geschäftserfolg und die zukünftige Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen, dass wir Institutionen brauchen, die die Organisation unterstützen, richtig? Ja, aber nur, wenn wir einen Schritt zurücktreten, die Augenbinde abnehmen und den "Elefanten" Wissen ganzheitlicher betrachten, indem wir mindestens zwei Aspekte anerkennen:

Tatsächliche Einsatzszenarien müssen die treibende Kraft hinter Wissensinitiativen sein

Produkte jeglicher Art sind nur dann erfolgreich, wenn ein guter Product-Market-Fit erreicht wurde. Use Cases von potenziellen Kunden müssen analysiert und offensichtliche (oder auch versteckte) Bedürfnisse identifiziert und mit dem Produkt gelöst werden.

Das Gleiche muss für Wissensinitiativen in Organisationen gelten: Die Use Cases (= Wissensbedürfnisse) der Kunden (= Mitarbeiter) müssen identifiziert und entsprechende Produkte entwickelt werden (= Wissensinitiativen). Diese Anwendungsfälle müssen die Art und Weise regeln, wie Wissen gesammelt, verarbeitet und verteilt wird und nicht irgendeine ISO-Norm, ein Bildungsmodell oder ein bestehendes Software-Tool.

Konzepte wie 5 Moments of Need, Performance Support oder 70:20:10 beinhalten dies als Leitprinzip: Die Bedürfnisse und Kontexte der Anwender werden in den Vordergrund gestellt, um eine höhere Sinnhaftigkeit zu erreichen. Lernen ist nicht mehr nur Mittel zum Zweck, sondern geschieht als Bestandteil der Arbeit, nicht losgelöst von ihr.

Meiner Meinung nach versprechen Konzepte wie diese, das fehlende Bindeglied zwischen KM und L&D zu sein, da beide Enden des Spektrums (Wissenssammlung (KM) & Wissensverteilung (L&D)) gleichermaßen berücksichtigt werden müssen, um erfolgreich zu sein. Das eine kann ohne das andere nicht auskommen, was mich zu dem anderen Punkt bringt:

KM und L&D müssen ihre Kräfte bündeln

Eine vernetzte Welt bringt entsprechende Tools und Methoden hervor, wie z.B. Barcamps, OpenSpaces, Working out Loud, Learning Experience Platforms, Enterprise Social Networks,... Diese Tools oder Konzepte erleichtern und fördern die Zusammenarbeit und Kooperation von Teams und Communities of Practice.

Durch ihren dezentralen Ansatz versprechen diese modernen Methoden und Werkzeuge, dem sich ständig verändernden Wissen in einer vernetzten Welt viel besser gerecht zu werden. Da es eigentlich keine formale Instanz mehr gibt, die zentral die Sammlung und Verteilung von Wissen bestimmt, werden die Grenzen zwischen L&D und KM immer unschärfer, wenn nicht sogar ganz verschwinden. Und KM-Konzepte wie das "3-Sphären-Modell" betonen, dass es nicht ein einziges Tool oder eine Softwarelösung geben kann, die als Allheilmittel für alle Wissensbedürfnisse dienen kann.

Sowohl L&D als auch KM müssen daher die Rolle eines aktiven Moderators und vertrauenswürdigen Beraters einnehmen. Sie müssen eng zusammenarbeiten, um die am besten geeignetsten Lösungen in ihren Unternehmen bereitzustellen, um sie zu lernenden Organisationen zu machen. Das Sammeln, Erwerben, Teilen und Nutzen von Wissen muss zu einem unverzichtbaren, sinnvollen Teil eines jeden Arbeitsablaufs werden und als solcher behandelt werden.

Wenn die „blinden Männer“ KM und L&D weiterhin so agieren, wie sie es schon immer getan haben und nicht anfangen, zusammenzuarbeiten, werden diese Abteilungen langsam aber sicher aufhören zu existieren und der Elefant bleibt unverstanden. Das wäre doch schade, oder?

Was denken Sie darüber? Übersehe ich etwas oder sind Sie da ganz anderer Meinung?

Pascal GuderianComment