Lernen auf die harte Tour: KI und das Lernen am Arbeitsplatz

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Wahrscheinlich ist die Workplace Learning-Industrie nicht anders als jede andere: Wann immer eine neue, scheinbar sinnvolle Technologie eine gewisse Schwelle der öffentlichen Aufmerksamkeit erreicht, gibt es einen Ansturm, diese Technologie auch beim Lernen am Arbeitsplatz einsetzen zu wollen. Sehr oft verfrüht, mit dem krampfhaftem Versuch, das Problem für die Lösung zu finden, um deren Einsatz zu rechtfertigen.

Das Ergebnis ist ein perfektes Spiegelbild des Gartner-Hype-Zyklus: Aufgeblähte Erwartungen an die Nützlichkeit der Technologie führen zu baldiger Ernüchterung, weil Projekte dann doch Masse scheitern. Die Technologie verliert daraufhin ihren Reiz oder wird sogar aktiv gemieden. Nachdem sich der Staub gelegt hat und die Technologie alltäglich geworden ist, wird sie schließlich doch sinnvoll eingesetzt. Nun aber mit einer pragmatischeren und realistischeren Herangehensweise, denn die Auswirkungen falscher Erwartungen sind ja nun bekannt. Man erreicht so das "Plateau der Produktivität". Nur um aber dann festzustellen, dass schon die nächste Technologie um die Ecke lauert und die volle Aufmerksamkeit erfordert. Denn diese neue, tolle Technologie wird die Probleme ganz sicher jetzt ein für alle Mal lösen. Kommt das Ihnen bekannt vor?

Nun, Sie merken es schon: Es ist ein Teufelskreis, wenn man versucht, immer mit der neuesten Technologie Schritt zu halten und davon auszugehen, dass sie auch für das Lernen am Arbeitsplatz von Vorteil sein wird. Und dann dämmert es Ihnen langsam: Was, wenn neue Technologien selbst in den seltensten Fällen das Lernen am Arbeitsplatz wirklich verbessern? Was, wenn erfolgreiche Lern- oder Unterstützungsinitiativen am Arbeitsplatz sich doch eher dadurch auszeichnen, dass in erster Linie die tatsächlichen Bedürfnisse der Menschen berücksichtigt wurden? Und dass die Technik nur das Mittel zum Zweck sein ist und entsprechend eingesetzt werden sollte?

Meiner Meinung nach befinden wir uns gerade in einer sehr kritischen Phase, in der wir wieder einmal den Fehler machen, Tech als den ultimativen Retter all unserer Probleme zu hypen. Nur spreche ich dieses Mal von der Mutter aller Hypes: Künstliche Intelligenz, kurz KI.

KI in unserem Privatleben

Ganz offensichtlich gibt es viele, viele Missverständnisse darüber, wie KI wirklich funktioniert und was sie (heute) eigentlich in der Lage ist zu leisten. Aber wenn es darum geht, ganz konkrete Vorteile zu erwarten, sind alle ganz schnell mit dabei. Denn in unserem Privatleben leben wir den Traum doch schon so gut wie, oder? (1)

  • Wir bekommen Empfehlungen für Dinge, die wir kaufen, hören oder sehen wollen, auf Basis unserer eigenen und der Vorlieben und Nutzungsmuster anderer.

  • Wir unterhalten uns mit KI-gesteuerten Chatbots und bekommen Hilfe.

  • Wir sprechen mit Alexa, Siri oder dem Google Assistant und erhalten genau die Informationen, die wir brauchen.

Damit das funktioniert, sind unglaubliche Mengen an Daten notwendig. Deshalb sind die führenden KI-Firmen die Giganten der Tech-Branche und die allergrößten Unternehmen der Welt, ausgestattet mit schier endlosen Reichweite und Rechenleistung. Jedes Mal, wenn wir eine Websuche verwenden, mit unseren sozialen Feeds interagieren oder die neuesten Gadgets kaufen, werden mehr Daten von Unternehmen wie Google, Facebook oder Amazon aufgesaugt, die zum Training ihrer KI-Lösungen verwendet werden.

Zwar stößt man trotz der Unmengen an Datenpunkten und Wissensgraphen, die diese Unternehmen besitzen, oft an die Grenzen des Möglichen und sieht die Risse in der makellosen Fassade. Jedoch davon ab: Warum können wir nicht etwas Ähnliches in unserem Arbeitsleben haben? Sollten wir nicht bereits “eine KI" einsetzen können, die uns bei unseren täglichen Aufgaben unterstützt, gerade in Sachen Workplace Learning?

Nicht wirklich, denn wir haben es mindestens mit zwei Problemen zu tun: Das eine sind die "Daten", das andere ist das "I" in der KI.

Die Daten

Überträgt man das Versprechen von KI auf das Lernen am Arbeitsplatz, werden sofort einige dieser Hirngespinste ausgelöst:

  • KI ist in der Lage, jeden Wissensbedarf der Mitarbeiter zu antizipieren

  • KI ist in der Lage, alle Informationen der Organisation sinnvoll an die relevanten Personen weiterzuleiten

  • KI ist in der Lage, genau die richtigen Informationen zur richtigen Zeit und über den richtigen Kanal an die richtige Person zu liefern

  • KI-basierte Chatbots beantworten alle Fragen der Mitarbeiter, unabhängig vom Thema

Mit anderen Worten: Wir müssen nur noch etwas KI in unsere Arbeitsplätze und -abläufe einträufeln und fertig, richtig?

Diese Erwartungshaltung wird derzeit von Anbietern und deren Marketingabteilungen aktiv und gezielt ausgenutzt. Denn zugegeben, es ist ein leichtes Geschäft: Die Zahlungsbereitschaft für ein Produkt ist höher, wenn KI auf die Produktverpackung gestempelt wird. Selbst dann, wenn gar keine "echte KI" enthalten ist, sondern nur herkömmliche intelligente Algorithmen, die als KI getarnt sind.

Aber es gibt einen wichtigen Unterschied zwischen Unternehmen wie Google, Amazon und Facebook und "normalen" Unternehmen: Es ist einfach unglaublich schwer, wenn nicht gar unmöglich, in einem Unternehmenskontext genügend Trainingsdaten zu bekommen, aus denen sich eine KI relevant bedienen kann. Zwar gibt es in Unternehmen viele Tausende von Menschen, die Daten erzeugen, aber das ist verschwindend gering im Vergleich zu den Milliarden von Anfragen, die Google oder Amazon jede Stunde verarbeiten. Und es gibt noch mehr Dinge zu berücksichtigen:

Erstens werden Unternehmen oft von ziemlich kleinen Teams mit sehr einzigartigen und spezialisierten Aufgaben und unterschiedlichen Bedürfnissen geführt. Und diese Teams generieren proportional noch weniger Daten im Vergleich zu den buchstäblich Milliarden von Menschen, die Google-Dienste nutzen.

Zweitens verhindern die typischerweise sehr heterogenen IT-Landschaften, dass Daten in ausreichender Menge zur Verfügung stehen. Google und Facebook haben den großen Vorteil, den gesamten Tech-Stack zu kontrollieren, während Unternehmen auf einem Flickenteppich aus inkompatiblen Systemen, Datentypen, Abstraktionsschichten, APIs usw. arbeiten. Es ist ein unüberwindbarer Aufwand, all diese theoretisch verfügbaren Daten überhaupt erst zu “normalisieren”. In seinem Umfang ist er vergleichbar mit den Initiativen zur Harmonisierung von IT-Infrastrukturen in Unternehmen, die seit Jahrzehnten in einzelnen Wellen kommen und gehen.

Aber selbst wenn wir in der Lage wären, alle Daten zu sammeln: Es vernachlässigt die Tatsache, dass "je mehr, desto besser" auch für das Training einer KI nicht unbedingt gilt. Denn es gibt noch mehr Probleme mit KI. Nämlich das mit der "Intelligenz“.

Dumme Intelligenz

Selbst wenn wir alle obigen Überlegungen beiseite lassen: KI ist heute in der Lage, Probleme auf Basis von Regeln, Statistiken, Eigenschaften, Methoden, Optimierungen, Ritualen etc. zu lösen. Je mehr überprüfbare Trainingsdaten eine KI für das autonome Lernen nutzen kann, desto besser. Folglich ist es für eine KI viel einfacher, besser "Go" zu spielen als jeder menschliche Spieler auf der Welt. Einfach weil sie Datensätze aus Millionen von Partien auswerten und ihre Spielstrategien auf der Basis der leicht überprüfbaren Bedingung, ob das Spiel gewonnen wurde oder nicht, optimieren kann.

Aber das bedeutet nicht, dass eine KI in der Lage ist, Monopoly ebenso reproduzierbar zu gewinnen. Eine gut trainierte KI ist hochspezialisiert in den Bereichen, für die sie trainiert wurde, und in der Regel noch nicht so intelligent. KI ist sehr weit entfernt von "interaktivem Lernen, Anpassung an sich ändernde Umstände, Abstraktion und Sprachverständnis".

KI-Lösungen hören auf zu funktionieren, sobald es eine kleine Abweichung von der erwarteten Domäne gibt, Trainingsdaten fehlen oder sie nicht schnell genug bereitgestellt werden. Ein interessanter Fall ist der des vielgepriesenen IBM Watson, der zwar Jeopardy gewinnen konnte, aber in der Krebsbehandlung kläglich scheiterte.

Wir Menschen und unsere Bedürfnisse lassen sich nicht durch schlichte Statistiken beschreiben oder in Schablonen pressen. Im Gegenteil: Das menschliche Verhalten ist phänomenal komplex und weit davon entfernt, verstanden und vorhersehbar zu sein. Alle Lernprofis sollten daher besonders skeptisch gegenüber KI sein. Letztlich arbeiten sie ja sogar in einer Branche, die schon immer mit dem Mangel an schlüssigen Erkenntnissen darüber zu kämpfen hatte, wie Menschen überhaupt lernen. Und nicht sicher zu wissen, welche Eingriffe welche Auswirkungen auf tatsächliche, messbare Ergebnisse haben, ist ein Deal Breaker für jede KI, damit sollten sich Learning Professionals eigentlich sehr gut auskennen.

Um eine KI zur Unterstützung des Lernens am Arbeitsplatz trainieren zu können, bräuchten wir genau das: Wir müssten wissen, mit welchen Daten wir eine solche KI trainieren können, welche Ergebnisse wir erzielen möchten und wie wir das Ergebnis messen wollen. Wir müssten Ergebnisse verifizieren und all diese Daten (vorausgesetzt sie sind in ausreichender Qualität und Quantität vorhanden) wieder in das System einspeisen, damit die KI wiederum für das gewünschte Ergebnis optimieren kann.

Und selbst wenn uns das gelingt, haben wir am Ende ein System, das einen sehr engen Anwendungsfall bedient, weil die KI nicht in der Lage ist, interaktiv zu lernen oder sich an die sich ständig ändernden Umstände unserer Arbeitsplätze oder an uns Menschen anzupassen. Klingt ziemlich herausfordernd in unserer Ära des ständigen Wandels, finden Sie nicht auch?

Was wir wirklich bräuchten, ist etwas, das sich "Künstliche Allgemeine Intelligenz" nennt. Doch die KI-Forschung deutet an, dass wir davon noch sehr, sehr weit entfernt sind und völlig neue Ansätze nötig wären, um diese "dritte Welle der KI" zu erreichen. Die heutige KI ist einfach etwas ganz anderes. Trotzdem ist das genau die Erwartung und das Produktmarketing von KI-basierten Unternehmen spielt ganz unverhohlen darauf an.

Spielen Sie kein Buzzword-Bingo

Verstehen Sie mich nicht falsch: Es gibt sehr sinnvolle, nützliche Anwendungen von KI, daran besteht kein Zweifel. In diesem Artikel geht es NICHT darum, KI als Technologie abzutun. Es geht um die überzogenen Erwartungen von Laien, die denken, dass man mit KI jedes Problem, das man in der Vergangenheit hatte, mit einem Fingerschnippen lösen kann. Solange Sie sich der Implikationen bewusst sind und Ihre Erwartungen entsprechend setzen: Machen Sie weiter so! Aber seien Sie sich bewusst, dass KI nicht "einfach funktioniert". Es braucht viel Training und der Aufwand kann sehr wohl den tatsächlichen Gewinn übersteigen, der durch die Einführung von KI überhaupt erst entsteht. Lassen Sie sich nicht vom Schlaraffenland täuschen, das uns die Lösungsanbieter mit ihren vermeintlich fehlerfreien KI-Lösungen versprechen. Fühlen Sie sich nicht von Ihren Stakeholdern gedrängt, auf den Zug jedes neuen Hypes aufzuspringen, weil Sie glauben, dass dies der einzige Weg ist, um als Learning & Development-Verantwortliche in Ihrer Organisation relevant zu bleiben.

Seien Sie umsichtig und denken Sie über pragmatische Alternativen nach, auch wenn Sie damit keine Buzzword-Bingos gewinnen können. Sehr oft gibt es bereits bessere Lösungen auf der Basis anderer, ausgereifterer und praxiserprobter Technologien weiter hinten auf dem "Plateau der Produktivität", um das Gleiche zu erreichen. Besser und schneller. Die neue Technik trägt nicht dazu bei, die Arbeitsplätze für die Mitarbeiter zu verbessern? Dann nutzen Sie sie einfach nicht, auch wenn es Ihrem inneren Geek bereits in den Fingerspitzen kitzelt... 

(1) Sie können das Web nach Beispielen durchforsten, aber fragen Sie sich einfach Folgendes: Haben Sie wirklich so oft sinnvolle Kaufempfehlungen von Amazon erhalten und nicht nur etwas Ähnliches wie das, was Sie vor kurzem schon gekauft haben? Haben Sie Ihren Kindern erlaubt, deutsche Hörspiele auf Ihrem sprechenden Zylinder zu hören und sich gewundert, warum Ihr Favoriten-Mix danach mit unglaublich schlechter deutscher Popmusik vollgespammt wird (probieren Sie es aus, es macht Spaß!)? Haben Sie sich gefragt, warum Sie jetzt zu einem Termin zum Flughafen aufbrechen sollen, wenn Sie doch eigentlich schon im Flugzeug sitzen.